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DER ALTE MANN UND DAS MEHR

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Alexander Freund
Zum Anfang
"Non!"

Zu spät.

Natürlich hatte ich mal wieder
wild um mich geschlagen,
und Sekunden später spürte ich auch schon
einen brennenden Schmerz an der Schulter.


Zum Anfang
"Deutsch?"

Ich nickte, und der alte Mann kam auf mich zu.

"Ganz ruhig bleiben! Sie dürfen sie nicht reizen",
belehrte er mich akzentfrei.

Wie oft ich diesen dämlichen Spruch schon gehört hatte!
Zum Anfang
"Schon gut, ich weiß!

Aber irgendwie stechen mich diese
Mistviecher trotzdem immer!
Die wissen einfach,
dass ich sie hasse!"

Sein Hemd stand weit offen,
trotz seines Alters wirkte er
sehr kräftig und agil.
Zum Anfang
Der alte Mann sah mich aus seinen wachen Augen mitleidig an.

Er hatte mich offenbar am Strand entlanglaufen gesehen und war spontan zu mir gekommen,
als ich hektisch mit den Armen fuchtelte.
Zum Anfang
Am Boden lag sein rotes Korsika-Handtuch
mit dem allgegenwärtigen Mohrenkopf.

Er trug eine zerbeulte Tuchhose,
kleine Wellen spülten
über seine nackten Füße.
Zum Anfang
"Hassen?
Woher sollen die Wespen denn wissen,
dass Sie Angst vor ihnen haben?"


Die Haut spannte,
um die Einstichstelle herum bildete sich
eine starke Schwellung und
ein tiefer Schmerz durchzog meine linke Seite.


Zum Anfang
"Hier, nehmen Sie!
Ich habe Ihnen das Tuch nass gemacht.
Legen Sie das darauf!"
 
Ich zögerte,
doch die Kühle linderte augenblicklich meinen Schmerz, auch wenn das Salzwasser unangenehm brannte.

So stand ich neben ihm
in der seichten Brandung
und kam mir seltsam kindisch vor.
Zum Anfang
"Ich weiß auch nicht,
wieso ich so panisch auf diese Viecher reagiere,
aber irgendwie werde ich immer wieder gestochen.

Als Kind hat mich mal ein ganzer Schwarm gejagt.

Ich hatte beim Maronensammeln
versehentlich in ein Erdloch gehauen
und dann sind die hinter mir her. "


Zum Anfang
Regenwolken hingen in den engen Schluchten, doch der Regen würde die Küste wieder einmal nicht erreichen.

Allmählich war die lähmende Schwüle selbst am Meer kaum noch zu ertragen.
Zum Anfang
"Es war furchtbar!

Allein auf dem Kopf hatte ich vierzehn Stiche.
Mein Gesicht war völlig zugequollen!

Der ganze Körper mit Stichen übersäht!
Echt Horror!
Und niemand konnte mir helfen.

Seitdem reagiert meine Haut
immer gleich ganz heftig.

Sehen Sie!"
Zum Anfang
Doch der alte Mann interessierte sich
nicht wirklich für meinen
angeschwollenen Stiernacken.

Wir standen beide
mit vor der Brust gekreuzten Armen
am Strand und blickten auf die Berge.


Zum Anfang
"Leben Sie hier?"

Er nickte,
deutete mit dem Kinn in Richtung der Berge.

"Und Sie?"
"Wir haben da hinten einen Bungalow gemietet."

Das Haus konnte ich aber selber vom Strand aus nicht mehr sehen.

"Schön hier!"

Zum Anfang
Der alte Mann nickte zufrieden,
schaute mit gekniffenen Augen aufs Meer.

"Wird’s besser", fragte er noch einer Weile.

"Geht schon."

Zum Anfang
"Trotzdem müssen sie sich bei Wespen ruhig verhalten, weil die sonst gereizt werden.

Eigentlich sind das zwar unangenehme,
aber harmlose Tiere.

Zum Anfang
"So ähnlich wie Feuerquallen.

Wissen Sie,
mir geht es bei Feuerquallen nämlich genauso", sagte er unvermittelt.

Verwundert sah ich ihn an,
doch der Alte blickte weiter
unbeirrt auf das Meer.
Zum Anfang
"Die sind auch harmlos,
wenn man ihnen aus dem Weg geht.
Es ist schon komisch:
Ich bin Taucher und liebe das Meer
und all seine Bewohner!
Ich bin auch schon so manchem Hai oder Moränen unangenehm nah gekommen.
Näher jedenfalls, als mir lieb war.

Aber seltsamerweise habe ich vor Feuerquallen immer am meisten Angst gehabt.

Seltsam, nicht wahr?"
Zum Anfang
Ich hatte nicht erwartet,
dass dieser Brocken überhaupt
vor irgendetwas Angst haben könnte.

Seine sonnengegerbte Haut
hatte schon viele lange Sommer erlebt.


Zum Anfang
Stolz trug er sein weißes Haar
auf der Brust vor sich her.

Einige Zähne fehlten,
aber trotzdem wirkte er gepflegt
- und ruhte völlig in sich selbst.
Zum Anfang
"Ja, seltsam", pflichtete ich ihm bei.

"Feuerquallen sind widerlich!

Ich meine, ich finde Ratten oder
irgendwelche Spinnen auch nicht so schlimm.
Ich mag sie nicht gerade,
aber sie machen mir keine Angst.

Aber bei Wespen und Bienen,
da werde ich einfach..."
Zum Anfang
"Na, aber da ist ja schon ein Unterschied, oder? 

Also, Wespen sind zugegebenermaßen
lästige Quälgeister,
aber Bienen sind doch faszinierend, oder?"

"Ich finde sie einfach nur schrecklich!"

Zum Anfang
"Da tun Sie den Bienen aber Unrecht!

Ich meine, das sind zwar beides Hautflügler,
aber die Honigbienen machen sich doch nützlich.
Denken sie an ihr faszinierendes Sozialverhalten.

Schon die alten Ägypter hielten sich Bienen,
wussten Sie das?"
Zum Anfang
Er wirkte nicht gerade wie ein Entomologe,
aber mit Sicherheit kannte er sich in der
Natur tausendfach besser aus als ich.

"Ne, wusste ich nicht. Honig ist schon ok.
Aber bitte keine Bienen in meiner Nähe."

"Andere Süßstoffe gab´s halt nicht", erklärte er.

"Dann eben lieber bitter!"

Zum Anfang
"Außerdem stirbt die Biene, wenn sie sticht!"

"Ja klar, hab ich schon mal gehört.
Geschieht ihnen auch ganz recht.

Aber Wespen sterben nicht,
diese Drecksviecher sind erstaunlich zäh."

Er spielte mit dem Fuß an einem Stein herum,
zeichnete mit dem dicken Zeh
einen Kreis in den Sand.


Zum Anfang
Aus den Bergen war das Gewittergrollen zu hören,
doch der böige Wind brachte
keine Abkühlung mit sich.

"Sie sollten ihre Angst irgendwann überwinden",
sagte er fast beiläufig.

Zum Anfang
Ich sah ihn von der Seite an,
aber er starrte weiter regungslos aufs Meer.

"Leichter gesagt als getan!"
Wir schwiegen eine Weile.

"Und Sie?
Haben Sie inzwischen ihre Angst
vor Feuerquallen überwunden?"

Zum Anfang
"Noch nicht ganz, aber weitgehend.
Wissen Sie, ich ... ich ... war Tauchlehrer.
Die Tauchschule, ... in der nächsten Bucht,
die hab´ ich ... vor mehr
als fünfundzwanzig Jahren gegründet.

Als Tauchlehrer verliert man
irgendwann seine Angst,
auch vor Feuerquallen,
das können Sie mir glauben!"
Zum Anfang
Er schaute selbstzufrieden
in Richtung der nächsten Bucht,
ganz am Ende wehnten bunte
Fähnchen im Wind,
dort war vermutlich
seine Tauchschule.

Er nickte kurz und blickte
wieder aufs Meer.
Zum Anfang
"Mehr als fünfundzwanzig Jahre!

So lange sind Sie schon hier?
Ich bin beeindruckt!

Aber warum haben Sie sich ausgerechnet
diese Insel ausgesucht?"
Zum Anfang
"Ach wissen Sie, keine Ahnung.
Das Meer, die Sonne, das Licht,
der Geruch der Macchia,
es ist eine herrliche Insel!
Und letztlich fehlt einem nichts.

Mit der Zeit verliert sich auch das Interesse
an der alten Heimat.
Ursprünglich komme ich nämlich aus Datteln.
Aber da hielt mich nichts.
Zum Anfang
Deshalb habe ich mein Hobby eben zum Beruf gemacht und bin hier Tauchlehrer geworden.
In Datteln gibt’s nun mal keine Korallenriffe."

Mir gefiel sein stolzes Lächeln
und seine tiefe Überzeugung,
den richtigen Schritt gegangen zu sein.

Zum Anfang
"Aber warum haben sie dann
die Tauchschule verkauft?"

Er sah zu Boden und schien
einen Moment zu überlegen.
Zum Anfang
"Irgendwann ließ sich das nicht mehr
gut mit der Familie in Einklang bringen.

Das ist halt Saisonarbeit: 
Im Winter wartet man auf den Frühling
und wenn die Kinder mal Ferien haben,
hat man selber keine Minute Zeit.

Dann hab´ ich die Tauchschule halt
vor zwei Jahren oder so verkauft.

Zum Anfang
Hat sich aber gelohnt, das sage ich Ihnen!

Aber natürlich, es ist schon schade,
auf all das zu verzichten,
auf das Meer,
das bunte Leben unter Wasser,
auf die hübschen Dinger
in ihren knackigen Anzügen,
das Gefühl von Freiheit."
Zum Anfang
Ganz so glücklich schien er mit der
Entscheidung doch nicht gewesen zu sein.

Eine Weile blickten wir schweigend aufs Meer, beobachteten wie eine stolze Segelyacht
an der weit am Horizont liegenden
Isola di Montecristo vorbeizog.


Zum Anfang

"Und jetzt?"

Vielleicht empfand der Alte meine Frage
als anmaßend, aber er lachte nur kurz,
ohne mich anzusehen.
Zum Anfang
"Tja, vom Geld der Tauchschule habe ich mir ein stattliches Anwesen gekauft,
mit ausreichend Land.
Und jetzt verkaufe ich Ziegenkäse."

"Ziegenkäse?!" 
Ich lachte.
"Und davon kann man leben?"

Er sah mich fast schon überheblich an.


Zum Anfang
"Na klar!
Ist ja schließlich nicht irgendein Ziegenkäse! Die Leute stehen richtig drauf.

Nur jetzt im August ist nicht viel zu holen.
Da sind alle am Strand.
Deshalb bin ich auch hier am Meer
und genieße die Tage.

Ist einfach zu heiß!"
Zum Anfang
Da hatte er Recht,
die gewittrige Mittagsluft war kaum erträglich und ich genoss das kühle Meerwasser um meine Füße.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken,
ein stückweit rauszuschwimmen,
aber irgendwie wollte ich unbedingt
seine Geschichte hören.

"Toll, Ziegenkäse.
Und wo ist Ihr Laden?"


Zum Anfang
Er zögerte
und zeigte schließlich Richtung Norden.

"Da, in ... der übernächsten Bucht,
den Berg hoch."

Orientierungslos blickte ich Richtung Irgendwo.

Zum Anfang
Meine Schulter war seltsam steif
und der Stich brannte fürchterlich.

"Und Sie?"

"Ich?"

Überlistet, bloßgestellt,
angegriffen fühlte ich mich,
obwohl ich mit der Frage natürlich
hätte rechnen müssen.
Zum Anfang
"Ich ... ich lebe in Koblenz.
Da gibt es natürlich auch keine Korallenriffe.
Und der Rhein ist ein schwacher Ersatz für das Meer.

Aber dafür habe ich einen spannenden Beruf!



Zum Anfang
Ich bin Anlageberater
bei einer namhaften deutschen Bank,
wie man so schön sagt.
Immobilien und so.

Momentan noch für den Bereich Koblenz und Peripherie, aber ich glaube,
da ist mehr drin", sagte ich voller Stolz,
um diesem Mann auch mal etwas
entgegensetzen zu können.
Zum Anfang
Der Alte zuckte nur kurz mit den Schultern
und sah wieder aufs Meer.

"Verheiratet?"
"Verlobt!"
"Zufrieden?"

"Ich denke schon",
antwortete ich ein wenig zu laut,
doch innerlich kam ich mir entsetzlich schwach vor.

"Na dann ist ja gut!
Wenn Ihnen nichts fehlt."
 
Zum Anfang
"Was sollte mir denn fehlen?"

"Keine Ahnung.

Ich wollte früher immer mehr im Leben,
als ich hatte", sagte der Alte
und sah nachdenklich zum Horizont.

"Auch wenn ich nie herausgefunden habe,
was dieses Mehr sein könnte.

Aber irgendwann muss man sich eben entscheiden, was man will im Leben!"


Zum Anfang


Fragend sah ich ihn an,
aber er blickte weiter unbeirrt
auf das türkisfarbene Meer.

Nach eine Weile nickte er,
ging zu seinem Handtuch
und verabschiedete sich.

Zum Anfang
"Ich muss zurück!
Machen Sie sich noch einen schönen Urlaub.

Versuchen Sie, ihre Angst vor Wespen
zu überwinden! Vor allem vor Bienen."

Mir war leicht anzumerken,
dass er mich beeindruckt hatte  
und er schien diese Anerkennung
sichtlich zu genießen.
Zum Anfang
"Hat mich sehr gefreut!
Ihnen auch noch viel Glück!
Mit der Familie.
Und dem Ziegenkäse!"

Er lächelte, klopfte mir kurz auf die Schulter
und verabschiedete sich mit
einem kräftigen Händedruck.

Lange sah ich dem Alten nach,
bis er in dem Eukalyptuswald
verschwunden war.
Zum Anfang
Ich ging am Meer entlang
bis zum Ende der Bucht und strahlte innerlich.

Diese abgezockte Insel gefiel mir auf einmal viel besser. Denn eigentlich mochte ich keine Inseln.

Weil ich mir sehr schnell abgeschnitten, ausgenommen, eingeengt vorkomme.

Erst ab einer gewissen Größe fand ich Inseln wieder erträglich. So etwa ab der Größe Großbritanniens.
Zum Anfang
Es dauerte exakt
zwei Tage,
eineinhalb Stunden Flug
und zwei Stunden in der Bank,
bis ich den Alten,
die Insel
und den Urlaub
vergessen hatte.

Zum Anfang

Ich arbeitete weiter an meiner Karriere,
fuhr zu viel und zu schnell und
schlief sporadisch mit Carmen.

Bis ich etwa sechs Wochen später,
am vermutlich letztmöglichen
Spätsommerabend im Biergarten,
erneut von einer Wespe gestochen wurde.


Zum Anfang




Wieder hatte ich so lange
mit den Armen herumgefuchtelt,
bis ich plötzlich in der Seite
einen brennenden Stich spürte.
Zum Anfang
In der anschließenden Nacht 
träumte ich von Orwells Room 101.

Wie Winston den Flur entlang
zu jenem Zimmer geht,
in dem ihn das Schrecklichste erwartete,
was er sich vorstellen konnte.

Hungrige Ratten,
in einem Käfig
vor den Kopf geschnallt.
Zum Anfang


Hungrig darauf,
sein Gesicht zu zerfleischen.

Der Weg zu Raum 101.
Weinend,
am ganzen Körper zitternd.
Zum Anfang
Room 101.
The worst thing.

Ratten im Käfig zerfleischen sein Gesicht.
Seine ganz persönliche Hölle.

Plötzlich war es mein Kopf,
der in einem Wespennest steckte.


Zum Anfang
Hunderte Tiere krabbelten über mein Gesicht
– ohne mich jedoch zu stechen!
Sie krabbelten in meinen Mund herein,
in die Ohren.
Alles brummte um mich herum.

Dann verschwamm alles und
ich sah den Alten vom Strand
in einem riesigen Aquarium
voller Feuerquallen treiben.
Zum Anfang
Schweißgebadet wachte ich auf.

Nein, ich bin nicht zufrieden.
Ich will auch mehr,
als ich gerade habe.
Was auch immer dieser Mehr ist.

Aber dazu muss ich zunächst einmal
meine Ängste überwinden!

Zum Anfang
Nach diesem Traum,
nach dieser Nacht beschloss ich,
mein Leben grundlegend umzukrempeln.

Der Einfachheit halber begann ich mit
meinem Privatleben und löste wenig später
meine Verlobung mit Carmen.

Um dann enttäuscht bis geschockt feststellen
zu müssen, dass sie vergleichsweise
gleichgültig darauf reagierte.
Zum Anfang
Ich zog nach Frankfurt,
von wo aus ich meine Karriere voranbringen wollte.

Außerdem setzte ich mich intensiv mit der
Bienenzucht auseinander.
Zumindest mit der Theorie, im Internet.

Besonders faszinierend fand ich die Drohnenschlacht, die Vertreibung der nach der Befruchtung
unnütz gewordenen, plumpen und stachellosen Männchen.

Carmen hätte dies sicherlich gefallen.
Zum Anfang
Schließlich beschloss ich,
meine Angst von Grund auf zu bekämpfen
und überredete meinen Vater,
auf dem elterlichen Grundstück am Waldrand einen Bienenstock aufzustellen.

Mein Vater wusste um meine Angst
und duldete das Experiment
trotz großer Bedenken.
Zum Anfang
Als ein Imker aus dem Harz
schließlich den Bienenstock brachte,
wäre ich vor Angst fast gestorben.

Ich hatte mir dafür sogar
zwei Urlaubstage genommen,
blieb dann aber doch hinter der
sicheren Scheibe im Wohnzimmer.


Zum Anfang
Zunächst musste also mein alter Herr
die ganze Arbeit übernehmen.

Er lernte, mit der Rauchkanne die Tiere
zu beruhigen und ließ sich zeigen,
wie die Platten anzuordnen waren.
Zum Anfang
Ich dagegen brauchte trotz
entsprechender Schutzkleidung
zwei Wochenenden,
bis ich mich dem Stock nähern konnte.

Regungslos stand ich
neben dem schlichten Holzkasten,
um den unaufhörlich Bienen kreisten.
Zum Anfang
Mein Vater trug inzwischen nur noch 
einen Schutzschleier und öffnete
ganz langsam den Kasten,
zog vorsichtig die Wabenplatte herauszog
und zeigte sie mir zur Begutachtung.

Es sollten noch einige Wochen vergehen,
bis ich mich ebenfalls traute. 
Zum Anfang
Mein Schlüsselerlebnis war aber zweifelsohne,
als wir zum ersten Mal Honig gewannen.

Als wir die Platten in die Zentrifuge stellten
und sich der Honig an den Wänden
der Schleuder sammelte.


Zum Anfang
Der Honig schmeckte ein wenig fade,
aber ich spürte eine Art von Stolz in mir,
den ich nie zuvor erlebt hatte.

Dass da etwas erzeugt worden war,
das ich in Händen halten,
das ich schmecken konnte
– und das ausgerechnet
durch meine größten Widersacher. 

Ich war unglaublich aufgeregt.
Zum Anfang
Mein ganzes Umfeld nervte ich
mit meinen Honig-Geschichten,
nur bei meinem Vater stieß ich
überraschend auf Verständnis
– und natürlich bei den
Gleichgesinnten im Internet.

Stundenlang tauschten wir uns
über Hautflügler im Allgemeinen und
Apis Mellifica im Besonderen aus.
Zum Anfang
"Manchmal muss man einfach
seine Ängste überwinden",
sagte mir mein Vater
eines Tages ganz beiläufig
und ich liebte ihn dafür.


Zum Anfang
"Irgendwann muss man sich eben entscheiden,
was man will im Leben", erwiderte ich.

Er sah mich verwundert an, nickte.
Ich glaube, dass er zu diesem Zeitpunkt
bereits wusste, was in mir vorging.

Lange bevor ich es wusste.
Zum Anfang
Jedenfalls reagierte er keineswegs überrascht, als ich ihm einige Wochen später erzählte, dass ich meinen Job trotz der guten Aufstiegschancen drangeben wolle.

Weil ich eine unbekannte Leere in mir spürte. 
Zum Anfang
Dass ich mich erst einmal umsehen
und alles noch mal überdenken wolle.

Aber dass ich wohl zu einer
Schuldnerberatung wechseln werde,
also quasi die Seiten wechsele.
Zum Anfang
Mein Vater hatte Verständnis dafür
oder zumindest gab er sich verständnisvoll.

Und ihm gefiel auch der Camper,
den ich gegen meinen Audi A3
eingetauscht hatte.

Weil er jetzt eben besser zu mir passte.
Zum Anfang
Und nach wenigen Minuten
sprachen wir schon wieder über Bienen
und ich erzählte ihm,
was ich im Internet darüber erfahren
und mit wem ich gechattet hatte.

Zum Anfang


Interessiert hörte er zu,
schüttelte zuweilen den Kopf
– das weißt Du von einem Imker
aus Brisbane,
ist ja kaum zu glauben?!
Wie klein die Welt geworden ist!
– und erzählte,
welch beruhigende Wirkung
die Arbeit mit den Bienen
auch auf ihn ausübte.
Zum Anfang


Im Internet begegnete ich dann auch Dominique,
der im Dörfchen Vescovato im Nordosten
von Korsika mehrere Bienenstöcke hatte.

Ein Schweizer, 42, 
den es vor acht Jahren
auf die Insel verschlagen hatte.

Zu dieser Zeit wollte ich noch an Zufall glauben.


Zum Anfang
Ich versuchte,
mich an den Alten vom Strand zu erinnern,
der meinem Leben solch eine
unerwartete Wendung verliehen hatte,
obwohl ich noch nicht einmal
seinen Namen kannte.
Zum Anfang
Wahrscheinlich hatte ich mich
zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden,
mich etwas längerfristig
auf der Insel niederzulassen.

Zumindest besuchte ich voller Elan
einen Intensivkurs,
um mein eingerostetes
Schul-Französisch aufzubessern.
Zum Anfang
Trotzdem dauerte es noch zwei weitere Jahre,
bis ich bei der Schuldnerberatung
eine Freistellung beantragt hatte,
meinen hiesigen Besitz vollständig auflöste
und die Kraft besaß,
meinen mitgealterten Vater zurückzulassen,
um mich auf den Weg zu machen.


Zum Anfang
Dominique hatte mir im Laufe der Zeit
viel über die besten Lagen für Imker
auf Korsika erzählt,
von lukrativen Absatzmöglichkeiten.
Zum Anfang
Irgendwann hatte er mir ein ansprechendes Haus mit Grundstück angepriesen,
das ich pachten konnte.
Ideal für die Bienenzucht.

Weiter im kargen Süden der Insel,
im zerklüfteten Alta Rocca,
unweit des Bavella-Massivs.
Zum Anfang
Anfang Mai war ich aufgebrochen,
als auch der Schwarmtrieb
der Honigbienen erwachte.

Zwei Tage lang war ich
mehr oder weniger durchgefahren.
Zum Anfang



Ich dachte an die Kollegen in der Bank.
An die Schuldnerberatung.
An Carmen.
Zum Anfang
Gedankenversunken blickte ich
auf das graublaue Meer.

In der Ferne tauchte meine neue Heimat auf.

Bis hierher fühlte sich alles richtig an. 
Zum Anfang
Ich traf ihn am Adlerbrunnen von Vescovato.

Dominique war mehr oder weniger genau so,
wie ich ihn mir vorgestellt hatte.

Etwas hagerer vielleicht.
Aber noch herzlicher,
als ich es erwartet hatte.
Zum Anfang
Seine Bienenzucht war beeindruckend
und seinem Honig verliehen
die Kräuter der Macchia
- Rosmarin, Basilikum, Majoran, Minze, Myrte, Thymian, Lorbeer und Salbei -
eine ganz außergewöhnliche Note.

Ein unfassbarer Genuss!
Zum Anfang
Großzügigerweise wollte er mir
zwei seiner Töchtervölker
für den Anfang überlassen.

Ich war völlig beschämt,
aber er bestand darauf,
schließlich müsse der Schwarmtrieb
entsprechend gelenkt werden und es
diene letztlich ja auch der
Verjüngung und Vermehrung der Völker.
Zum Anfang
Zwei Tage später machte ich
mich mit meiner kostbaren,
brummenden Fracht
auf in Richtung Süden.

Knapp zwei Stunden würde ich
bis zu dem Haus brauchen,
das für die nächste Zeit
das Heim für mich
und meine Bienen sein sollte.


Zum Anfang
Unterwegs aber
wollte ich auf jeden Fall kurz
den Alten besuchen,
dem ich diese radikale Kehrtwende
in meinem Leben zu verdanken hatte.
Zum Anfang
Die Stelle,
wo wir uns begegnet waren,
fand ich ohne Probleme wieder.

Aber sein Ziegenkäsegeschäft in der
angrenzenden Bucht
suchte ich eine Weile lang vergeblich.

Weder in der nächsten Bucht,
noch in der Bucht weiter südlich
gab es ein entsprechendes Geschäft.
Zum Anfang
Vielleicht war er ja weiter gezogen, 
dachte ich,
doch wen ich auch fragte,
kein Einheimischer konnte etwas
mit meinen Beschreibungen anfangen.
Niemand kannte ihn.  

Ohne Namen
war offensichtlich nichts zu machen.


Zum Anfang

Ich erinnerte mich
an seine ehemalige Tauchschule,
dort müsste man mir
weiterhelfen können. 

Sicherlich kannten sie dort
den Namen des Alten,
oder vielleicht sogar seine Adresse.
Zum Anfang

Der drahtige Besitzer
sah mich verständnislos an.

Nein, er wisse nicht, wen ich meine.
Und was das solle.

Er selber habe diese Tauchschule hier
vor vierzehn Jahren aufgebaut.
Alleine!

Vorher war hier nichts. 
Er habe nichts übernommen. 


Zum Anfang
Nein, hier gab und gibt es
keine andere Tauchschule weit und breit.

Nein, auch keine Surfschule, gar nichts.
Nirgendwo. 

Nein, erwiderte er energisch,
da habe mir wohl jemand Quatsch erzählt.

Das sei die einzige Tauchschule an der Ostküste.
Und das solle bitte schön auch so bleiben!
Zum Anfang
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