Hinweis

Für dieses multimediale Reportage-Format nutzen wir neben Texten und Fotos auch Audios und Videos. Daher sollten die Lautsprecher des Systems eingeschaltet sein.

Mit dem Mausrad oder den Pfeiltasten auf der Tastatur wird die jeweils nächste Kapitelseite aufgerufen.

Durch Wischen wird die jeweils nächste Kapitelseite aufgerufen.

Los geht's

SHIVAS RACHE

Logo https://frakturen.pageflow.io/shivas-rache-17871





Alexander Freund
Zum Anfang

Shiva hatte seine besten Krieger geschickt.


Mein Frisör war tief beeindruckt.
Zum Anfang



Umhüllt vom süßlichen Duft der Räucherstäbchen empfing mich
mein Frisör an der Tür.

Ich folgte ihm die Holztreppe hinauf,
setzte mich an den kleinen Tisch neben der Schiebewand und starrte auf eine Hindu-Gottheit hinter meiner dampfenden Teetasse.
Zum Anfang

Shiva sei dies, erklärte mir mein Frisör,
während er mir den Kopf einschäumte.

Zu dem habe er eine ganz außergewöhnliche
Beziehung aufgebaut während seiner
dreimonatigen Indien-Reise.
Zum Anfang

Weil ich immer gleich stutze,
wenn mir mein Frisör von irgendwelchen "außergewöhnlichen Beziehungen" erzählt,
seit er spürt, dass er irgendwie bisexuell ist, ließ ich mich von ihm auf diese Reise mitnehmen.
Zum Anfang


Drei Monate kann ich gut warten,
denn ich halte meinem Frisör die Treue.

Selbst als er einen viermonatigen Trommelkurs
auf Teneriffa gemacht hat und ich aussah
wie ein in die Jahre gekommener Hippie. 


Zum Anfang
Ja, ich bleibe meinem Frisör treu,
selbst wenn ihm selber langsam die Haare
ausgehen und er doch Yoga-Lehrer werden
oder T-Shirts entwerfen will.

Ich schloss die Augen und
folgte ihm nach Indien.

Zum Anfang

Sein Empfang dort war allerdings wenig herzlich.
Gleich am Flughafen haben sie ihn ausgenommen,
der Taxifahrer, der Hotelvermittler,
die falschen Freunde.

Und ja, am liebsten wäre er
gleich wieder umgekehrt,
nach Hause, egal,
sagte mein Frisör.

Zum Anfang
Natürlich sollte sein Geschichte
nicht so enden,
das wusste ich.

Deshalb genoss ich seine Kopfmassage
und tauchte ab in das indische Wirrwarr.  

Zum Anfang
Im Hotel lernte er dann Helene aus Dänemark kennen, die schon seit zwei Jahren in Indien unterwegs war. Und die bei ihrer Ankunft damals auch betrogen worden war.

"Gleiche Story! Am Bahnhof.
Stell Dir das mal vor!
Total gemein",
empörte sich mein Frisör. 

Zum Anfang

Aber irgendwie machte ihm das auch Mut.
Geteiltes Leid und so.

Deshalb blieb er, schließlich wollte er ja
etwas über indische Medizin erfahren.
Zum Anfang
Helene gab ihm dann diese Shiva-Figur,
denn da war etwas zwischen Shiva und ihm,
das spürte sie.

Er fand das irgendwie seltsam oder albern,
aber Helene bestand darauf.
Und mein Frisör musste ihr sogar versprechen,
abends für Shiva einige Zeilen zu rezitieren,
die er gar nicht verstand.

Zum Anfang

Weil sich Helene total sicher war,
dass da irgendeine Verbindung bestand,
murmelte er tatsächlich abends diese Zeilen.

Er wusste nicht so recht,
wann er damit wieder aufhören durfte. 

Oder ob das vielleicht
Unglück bringt. 
Zum Anfang
Er sah sich die Stadt an und gewöhnte sich
an das Chaos. 

Nach einigen Tagen erfuhr er von einem anderen Traveller, dass Helene abgereist war.

Mein Frisör war stinksauer,
weil sie sich nicht einmal verabschiedet hatte. 

Zum Anfang
Helene war weg, aber mein Frisör wusste
noch immer nicht, wohin er eigentlich fahren wollte. 
Und ob er das mit Shiva jetzt auch nach ihrer Abreise weiter machen musste.

Irgendwann machte er sich dann auf Richtung Agra.
Weil es da so viel zu sehen gab und
wohl auch, weil da eben alle hinfahren.
Zum Anfang
Am Tag vor der geplanten Abreise lernte er
aber diese beiden wirklich netten Backpacker
aus Mechelen kennen.

Und die wussten ganz genau,
wo sie hin wollten:

Nach Rikikesh im Norden,
wo ja auch schon die Beatles 1968
das Meditieren gelernt hatten.


Zum Anfang
Monique und Clarisse
fanden die Beatles nämlich
immer noch einfach nur genial.

Und mein Frisör eigentlich auch.
Zum Anfang
Alles hatten die Beatles damals,
schwärmten die Beiden. 

Berühmt und reich waren sie,
aber nur dort glaubten sie
den inneren Frieden zu finden.

Fernab von Trubel und Öffentlichkeit
in einem Ashram.




Zum Anfang
Okay, Donovan war auch da
und der Leadsänger von den Beach Boys.

Aber sonst: Totale Ruhe.

Gut, Mia Farrow war auch noch da,
nachdem sie sich von Frank Sinatra
getrennt hatte.

Aber sonst: Innere Ruhe.


Zum Anfang
Innere Ruhe.

Danach suchte mein Frisör auch irgendwie. 

Und weil ihm im Gespräch mit den
Belgierinnen immer klarer wurde,
dass er nicht wirklich einen Plan hatte,
wo er die restlichen Wochen verbringen wollte,
fragte er sie, ob er sich ihnen
anschließen dürfe.


Zum Anfang
Irgendeinen Grund
musste es ja schon haben,
warum die Beatles
so lange da waren,
meinte mein Frisör.
Zum Anfang

Clarisse, vor allem aber Monique
fanden das voll in Ordnung,
weil man in Indien in Begleitung
eines Mannes nicht so oft
blöd angemacht wird.

Mein Frisör war ganz überrascht und stolz,
auf einmal eine echte Männerrolle
spielen zu dürfen.
Zum Anfang
Schon die Busfahrt nach Rikikesh
war super lustig, erzählte mein Frisör.
Weil die Mädels so viel von sich erzählten.
Und weil sie sich für sein Leben interessierten.

Außerdem sangen die beiden
genau so gerne wie er.

Sie erzählten, lachten, sangen und trommelten. 
Zum Anfang
Rikikesh, diese gesamte Anlage
in den Ausläufern des Himalaja,
war der absolute Hammer,
erzählte mein Frisör.

Alles ziemlich eingewachsen
und runtergekommen,
die Meditationshalle
und die anderen Gebäude. 


Zum Anfang
Aber irgendwo an diesem spirituellen Ort hatten
Paul und John, George und Ringo
zusammen gesessen und die neuen Lieder
für ihr "Weißes Album" komponiert.

Irgendwo hier.
Zum Anfang
In der Nähe standen so seltsame
eierförmige Gebäude aus Stein und Lehm,
keine Ahnung.

An eins dieser Eier-Häuser
war eine Leiter angelehnt. 

Mein Frisör hat nicht lange überlegt,
ist da hochgeklettert und war
total überrascht,
dass es oben einen kleinen Einstieg gab.


Zum Anfang
Der Ausblick war gut und mein Frisör
konnte sich nicht vorstellen,  
dass man nicht in diese Eier-Häuser 
rein durfte.  

Ein total irres Raumerlebnis,
sagte mein Frisör.

Er bemerkte sofort,
wie krass die Akustik darin war.


Zum Anfang
Die Belgierinnen folgten ihm.

Gemeinsam starrten sie durch den Kreis
in den Abendhimmel und begannen
irgendwann zu singen.

Es war wunderschön und sie
waren einfach nur glücklich.

Ganz erfüllt irgendwie.
Zum Anfang



Am nächsten Tag wollten sie wiederkommen.
Und dann auch ihre Trommeln mitbringen.

Doch als sie sich dem Ei nähern wollten,
sahen sie gleich daneben in einem der Bäume
ein gewaltiges Wespennest,
das tropfenförmig von einem Ast herunter hing.

Das war ihnen vorher nicht aufgefallen.
Zum Anfang
Das Nest war groß wie ein Wäschekorb. Irgendwie unheimlich. Ein einziges gelb-schwarzes Geflimmer und Gesumme.

Mein Frisör hatte aber trotzdem nicht
so viel Angst, behauptete er zumindest.

Aber Clarisse stellte sich fürchterlich an
und wollte schon umkehren.
Zum Anfang
Sie machten einen großen Bogen
um den Baum und näherten sich von der anderen Seite vorsichtig dem Eier-Gebäude.

Mein Frisör kletterte zu erst hinein
und war froh, das nervöse Wespenvolk
hinter sich gelassen zu haben. 
Zum Anfang
Wenig später folgten die beiden Belgierinnen
und Monique war total aufgekratzt.
Sie stimmte gleich ein paar Mantras an.

Clarisse war erst etwas nervös,
summte dann mit.
Und auch mein Frisör stimmte ein. 

Sie genossen die Kühle des Raumes,
während die Sonne vom Himmel brannte.
Zum Anfang
Nach einer Weile untermalte Monique
ihren Gesang mit kurzen rhythmischen
Schlägen auf ihrer hell klingenden Trommel.

Mein Frisör nahm ihren Rhythmus an
und trommelte auf seiner großen,
mit nepalesischem Fell bezogenen Trommel.
Zum Anfang

Sie lachten und konzentrierten sich
auf die sich überschlagenden Klangwellen.

Kleine Schweißperlen sammelten sich
auf Moniques Oberarmen,
auf ihren Wangen. 
Zum Anfang
Auch mein Frisör spürte,
wie sein Trägershirt am Rücken festklebte.

Er war so froh, dass er nicht aufgegeben hatte. Dass er diesen Ort erleben durfte.

Dieses Gefühl werden die Beatles
sicherlich auch gehabt haben.


Zum Anfang
Außer Ringo vermutlich,
der ständig angepisst war,
dass die ganzen Mädels
vor allem auf den immer
lächelnden Maharishi abfuhren,
der gottähnlich über
dieser Anlage schwebte.
Zum Anfang
Der Guru hat ja offenbar auch
John und George tief beeindruckt.

Vielleicht haute Ringo deshalb schon
nach zwei Wochen wieder ab.

Weil die anderen Beatles den Trommler
ja ohnehin nicht mehr mochten.


Zum Anfang

Tja, Paul kam und ging,
wie es ihm passte.

Nur John und natürlich George
blieben die ganzen vier Monate.

Was sich mein Frisör
beim besten Willen
nicht vorstellen konnte.
Zum Anfang

Irgendwann bemerkten sie, 
dass sich einzelne Wespen
in dieses Ei verirrten.
Das war nervig,
weil Clarisse richtig Angst hatte
und hysterisch um sich schlug.

Mein Frisör konnte sie aber
schließlich doch beruhigen und
als die Viecher wieder rausgeflogen waren, trommelten sie weiter.


Zum Anfang
Nach einer Weile schwirrten
allerdings immer mehr Wespen über dem kreisförmigen Einstieg und nicht
nur Clarisse wurde unruhig.

Also kletterte mein Frisör nach oben,
um nachzusehen.

Da er vor den paar Wespen keine sonderlich
große Angst hatte, behauptete er,
ließ er sich von Monique
seine Trommel anreichen.
Zum Anfang
In dem Moment stürzte sich der
ganze Schwarm auf meinen Frisör. 

Sekundenschnell wurde er hundertfach
auf den Kopf, auf Arme und Beine,
ins Gesicht gestochen. 
Zum Anfang
Überall, in seinen Haaren,
an seinen Ohren krabbelten sie rum.

Wie von Sinnen kniff mein Frisör Mund
und Augen zusammen und stürzte,
wild um sich schlagend,
von diesem seltsamen Ei ab.



Zum Anfang

Trotz des harten Aufschlags
rappelte er sich hoch und rannte los,
ohne die Augen zu öffnen,
einfach nur weg.


In der Ferne hörte er noch
die beiden Mädchen schreien,
aber er lief weiter.
Zum Anfang
Zum Anfang
Zu Bewusstsein kam er erst wieder,
als ihm Monique die Wasserflasche
ins Gesicht schüttete,
erzählte mein Frisör.

Seine Augen konnte er zunächst
nicht öffnen, so zerstochen
war sein Gesicht.

Er hörte auch nicht viel,
alles war völlig verschleiert.

Zum Anfang

Monique und ein Inder halfen ihm auf,
er hatte keine Kontrolle mehr
über seine Beine.

Sie hatten ihn in ein Haus geschleppt,
das angenehm kühl und dunkel war.


Zum Anfang
Nach einer kleinen Ewigkeit kam ein Mann,
der ihn auf einen alten Schreibtisch legen ließ.
Es fühlte sich an, als würde sich die Tischplatte in seinen zerstochenen Rücken einbrennen.

Immer wieder wurde er ohnmächtig.

Trotzdem spürte er noch,
wie ihm der Mann etwas
in den Arm spritzte.
Zum Anfang
Zum Anfang
Am nächsten Morgen erwachte er
in seinem Hotelzimmer.

Der altersschwache Ventilator zog
mühsam seine Runden.

Durch das trübe Fenster fielen
einzelne Sonnenstrahlen auf
die gegenüber liegende Wand.

Zum Anfang

Er konnte also wieder etwas sehen
und so betrachtete er
seine geschwollenen Hände,
auf denen noch immer
die unzähligen Einstiche
zu erkennen waren.
Zum Anfang



Als er sich gerade mühsam aufgerichtet hatte,
kamen Monique und Clarisse in sein Zimmer
und brachten ihm etwas zu trinken.

Doch auch seine Lippen waren noch völlig angeschwollen und so lief das Wasser
an den Mundwinkeln vorbei auf sein T-Shirt.
Zum Anfang
Er schlief gleich wieder ein und erwachte erst,
als sich der Himmel bereits verfärbte.
Sein Rücken war ganz steif, ihm fehlte die Kraft,
um sich auf die Seite zu legen.

Gleich nachdem er die Augen wieder geschlossen hatte, sank er in einen tiefen Schlaf,
aus dem er erst erwachte,
als sein Name am folgenden Morgen
gerufen wurde.
Zum Anfang
Monique und Clarisse saßen neben
seinem Bett und hatten
etwas Gebäck mitgebracht.

Nach einer Weile versuchte mein Frisör,
sich aufzurichten, was ihm schließlich
mit der Hilfe der beiden Belgierinnen gelang.


Zum Anfang

Er war zwar noch etwas schwach
auf den Beinen, aber nach einer Weile
gelang es ihnen, gemeinsam zum
Frühstücksraum zu gehen.
Zum Anfang
Monique und Clarisse erzählten
meinem Frisör und den anderen Travellern, dass am Tag vor dem Wespenangriff
auch eine Gruppe Italiener
von den Wespen attackiert worden war.

Was total komisch war,
weil die Wespen vorher wohl
noch nie jemanden angegriffen hatten.

Zum Anfang

Zum Glück war da ja dieser Doc,
der irgendein Beruhigungsmittel
oder Gegengift gespritzt hätte.
Man weiß ja nie, meinte Monique.  

Die anderen Traveller waren total
beeindruckt von der Attacke und
von den vielen Stichen.

Zum Anfang

Doch mein Frisör konnte die allgemeine Aufmerksamkeit nicht wirklich genießen,
weil sein Gesicht so zugeschwollen war
und sein ganzer Körper brannte.

Dann aber kam Lindsay aus Cornwall
zu meinem Frisör und legte ihm ihre
kühlende Hand auf den Arm.
Zum Anfang
Mein Frisör musterte ihre
hennafarbenen Strähnen
und den kleinen Stein
in ihrem rechten Nasenflügel,
den türkisfarbenen Anhänger
an dem Lederband um ihren Hals. 

Mit rauer Stimme fragte sie vorwurfsvoll, 
was er sich denn gedacht habe,
Shiva so zu reizen.


Zum Anfang

Weil mein Frisör sie
nur verständnislos ansah,
nahm sie sein Gesicht vorsichtig
zwischen beide Hände und sah ihm
tief in die verquollenen Augen.

Natürlich war das Shivas Rache,
erklärte Lindsay.  

Zum Anfang
Mein Frisör wäre trotz der etwas
eifersüchtigen Blicke von Monique
sofort bereit gewesen, dies zu glauben,
wenn er es nur verstanden hätte.

Da ließ ihn Lindsay wieder los,
blickte verwundert
in die Runde und sagte:

"Ja, wisst Ihr denn nicht,
dass die Wespen Shivas Krieger sind?!"
Zum Anfang


Nein, das hatte niemand aus der Runde gewusst.

Meinem Frisör erschien dies sofort
die einzig mögliche Erklärung zu sein.

Schließlich hatte ihm Helene bereits
bei seiner Ankunft gesagt,
dass es zwischen ihm und Shiva
eine außergewöhnliche Beziehung gäbe.
Zum Anfang
Zum Anfang

Tja, deshalb steht die Shiva-Figur
jetzt auf dem Frisörtisch.

Aber ich sehe ihn gar nicht an,
sondern wiege meinen Kopf
nach rechts, nach links.

Strich mir eine Strähne hinter
das Ohr und versuche mich mit dem
fremden Spiegelbild anzufreunden.


Zum Anfang
Dass diese außergewöhnliche Beziehung
eine solch schmerzhafte Erfahrung sein würde,
habe er nicht erwartet.

Aber mein Frisör war tief berührt,
dass Shiva tatsächlich mit ihm
in Verbindung getreten ist.


Zum Anfang
Eigentlich möchte er jetzt auch lieber
"Swami" genannt werden.

Er überlege schon noch,
ob er Yoga-Lehrer werden will.

Das mit den T-Shirts ist aber
auf jeden Fall gestorben.

Klar, der nächste Trommel-Workshop
findet Pfingsten in der Eifel statt.


Zum Anfang
"Macht 28 Euro, wie immer."

Ich zahlte,
vereinbarte einen neuen Termin und
fragte mich, ob ich mir den Namen
"Swami" bis dahin
wohl merken könne. 
Zum Anfang
https://frakturen.com 
© Alle Rechte vorbehalten
Zum Anfang
Scrollen, um weiterzulesen Wischen, um weiterzulesen
Wischen, um Text einzublenden